GfS-Jahrestagung 2023 am 20./21 Januar 2023 in Iserlohn: Transformationsherausforderungen in der Automotive-Industrie und die „ATLAS – Automotive Transformationsplattform Südwestfalen“

Südwestfalen gehört zu den Regionen, die überdurchschnittlich von der Industrie geprägt ist; wobei die Automobilindustrie mit über 500 Unternehmen und mehr als 50.000 Beschäftigten eine herausragende Rolle spielt. Von daher steht die Region durch die Transformation der Automobilindustrie vom Verbrennungsmotor hin zu elektrischen Antrieben vor einer tiefgreifenden Transformation, die sich auch mit Energieengpässen, Klimawandel, Digitalisierung und Fachkräftemangel auseinandersetzen muss.

Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz mit 7,1 Mio € geförderte Forschungsprojekt „ATLAS – Automative Transformationsplattform Südwestfalen“ bildet den Fokus der regionalen Transformationsstrategie und soll dazu beitragen, dass vor allem kleine und mittlere Unternehmen für die Herausforderungen der Zukunft aufgestellt werden. Der beteiligungsorientierte und sozialpartnerschaftliche Ansatz von ATLAS trägt der Notwendigkeit Rechnung, dass die Gestaltung der Transformation neue Formen einer vernetzten bzw. kooperativen Governance benötigt.

Im ersten Teil am Freitag 20. Januar 2022 ermöglichte die Firma Risse + Wilke Kaltband GmbH & Co. KG in Iserlohn rd. 20 Teilnehmenden einen umfassenden Einblick als Einstieg in das Thema. Geschäftsführer Jörg Lohölter leitete von der wechselvollen Historie des Standorts der Herstellung von Kaltband als Spezialprodukt in der Metallbranche zu aktuellen Herausforderungen über: Rund ein Viertel des Absatzes werde für Produkte im Automobil-Antriebsstrag verwendet, die mit der Umstellung zur Elektromobilität überwiegend überflüssig werden. Firmenzukäufe entlang der Wertschöpfungskette wurden bereits realisiert, um neue Absatzmärkte zu erschließen. Weitere Einsatzbereiche für Kaltbandprodukte werden u.a. von einem betriebsinternen Innovationsteam identifiziert. Mit einem gläsernen „Innovationsraum“ steht dafür sogar abseits des Verwaltungsgebäudes ein physisch unübersehbarer Treffpunkt mitten in der Produktionshalle bereit. Das Innovationsteam konnte mittels Ideenmanagement bereits erfolgreich Maßnahmen zur Effizienzsteigerung initiieren.
Im Anschluss an eine Betriebsbesichtigung wurde mit der Geschäftsführung und dem Betriebsrat über die betrieblichen Transformationsherausforderungen und -strategien diskutiert. Auch darüber, wie regional vernetzte Aktivitäten wie vor allem ATLAS diese unterstützen können. Aufgrund des Ruhestandes geburtenstarker Jahrgänge bestehe wenig Sorge vor einzelnen bereits geplanten Rationalisierungs-Investitionen. Im Gegenteil: Die Integration von Mitarbeitenden aus aller Welt mit inzwischen über 20 Nationen sowie ggf. die Chance zum Bildungsaufstieg seien notwendig, um den weiterhin drängenden Fachkräftebedarf zu decken. Die Motivation vieler betriebsangehöriger Familien sei, langfristig wettbewerbsfähige Erwerbsperspektiven für den Standort zu erhalten. Zur Zukunftssicherung kann das Unternehmen schon auf viele bestehende Netzwerke und Kooperationen aufbauen, z.B. Technikzentren, Fachvereinigungen und Hochschulen. ATLAS könnte weitere Perspektiven aufzeigen, z.B. auf welchem Wege die Mitarbeitenden mit den Konstrukteuren zukünftiger Kunden eine Zusammenarbeit bei der Produktentwicklung etablieren könnten.

Am Freitagabend fand wie gewohnt die jährliche GfS-Mitgliederversammlung im Hotel Vierjahreszeiten in Iserlohn statt.

Im zweiten Teil am Samstag, 21. Januar 2023 stand die regionale Vernetzung im Mittelpunkt. Südwestfalen hat für die mittlerweile zweite REGIONALE die regionale Vernetzung und Strategieentwicklung deutlich ausgebaut. Dies wird auch daran erkennbar, dass das Projekt ATLAS von einem starken regionalen Verbund aus Hochschulen, Arbeitnehmer- und Arbeitsgeberverbänden, Kreisen, Kammern und Wirtschaftsförderern getragen wird. Vertreter und Vertreterinnen von beteiligten Stakeholder-Organisationen berichteten über die regionale Strategie und erörterten mit uns darüberhinaus gehende Perspektiven.

Fabian Ferber von der IG Metall Geschäftsstelle Märkischer Kreis verdeutlichte die Brisanz für großte Teile Südwestalens am Beispiel einer Kleinstadt: In Plettenberg seien 5.000 Arbeitsplätze unmittelbar vom Verbrennermotor-Antriebsstrang abhängig. Die letzte volle Auftragsrunde erfolge voraussichtlich 2026 – danach wollen Automobilhersteller ihr Angebot umstellen.

Jochen Schröder von der Gesellschaft für Wirtschafts- und Strukturförderung im Märkischen Kreis, Kirsten Kling, Geschäftsführerin der Regionalagentur Mark (Regionalagentur Märkische Region) und Prof. Christina Krins vom Fachbereich Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften der FH Südwestfalen stellten bestehende Innovationsakteure und -maßnahmen in der Region Südwestfalen dar. So z.B. den seit 10 Jahren bestehenden „Transferverbund Südwestfalen“ mit ca. 350 Projekten zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Die Beteiligten sehen als Konsortialpartner in dem ATLAS-Vorhaben eine Chance, die bestehende Vernetzung auf eine goßräumigere Ebene von Südwestfalen zu bringen.

Achim Vanselow berichtet zum übergeordneten Netzwerk, z.B. dass es deutschlandweit mehrere Regionen mit entsprechenden Netzwerken gibt, von denen 2 in Südwestfalen liegen.

Muhamed Kudic vom Mittelstandskompetenzzentrum 4.0 der Universität Siegen stellte als Konsortialführer das ATLAS-Projekt vor. Die Vision stellt darauf ab, “ ein breit getragenes regionales Transformationsnetzwerk aufzubauen, dass Unternehmen des Automotiv-Sektors, insbesondere KMU, bei bestehenden – tiefgreifenden- Transformationsprozessen mit Blick auf Technologie, Qualifikation, Unternehmensstruktur und Strategie durch sozialpartnerschaftliche, beteiligungsorientierte und ganzheitliche Ansätze unterstützt“. Dabei werden drei Schwerpunkte gesetzt:

  • Intrapreneurship und neue Geschäftsmodelle
  • Qualifikation und Mitnahme der Belegschaft
  • Netzwerkaufbau und Verstetigung

Die Auftaktveranstaltung im November konnte mit prominenten Teilnehemenden bereits eine große Aufmerksamkeit erzielen. Darauf wird mit ersten Maßnahmen aufgebaut, z.B. das Kreieren von technologisch ausgestatten Räumen um z.B. Verbrauchsmessungen oder Sensoren zur Digitalisierung alter Maschinen (Retrofitting) ausprobieren zu können. Das Programm ist mit 2 Jahren eigentlich zu kurz. In der Zeit könne nur ein Portfolio von Maßnahmen dahingehend bewertet werden, was funktioniert und was nicht. Im Anschluss soll versucht werden, vorhandene Lösungsanbieter an die Unternehmen zu vermitteln.

In der anschließenden Diskussion wurde neben der kurzen Projektlaufzeit auch das Fehlen von Unternehmen bei der Finanzierung als erfolgsmindernd beurteilt. Der Arbeitgeberverband arbeitet allerdings im Kernbeirat mit und die über den Transferverbund Südwestfalen finanzierten Technologiescouts wurden um eine dritte Stelle für den ATLAS-Verbund ergänzt. Größere Unternehmen würden die Transformation zwar teilweise alleine schaffen, jedoch sind viele Kleinunternehmen als verlängerte Werkbänke ohne eigene Entwicklungsabteilung untrennbar abhängig von größeren Unternehmen in der Wertschöpfungskette. Kleine Unternehmen hätten zudem neben dem Tagesgeschäft kaum Zeit und keine speziell für solche Entwicklungsprozesse spezialisierten Mitarbeitenden.

Bei Atlas gehe es um Existenzsicherung, da die Unternehmen ihre Geschäftsmodelle nicht unverändert fortsetzen können. Der nötige Wissenstransfer im Bereich künstliche Intelligenz und Digitalisierung stellen große Anforderungen an den unterschiedlichen Kenntnisstand in den Unternehmen. Von Beginn an soll daher bei technischen Innovationen die Kompetenzentwicklung der konkreten Arbeitsplätze im Betrieb mitgedacht werden: Was habe ich und wohin will ich damit? Hier wird der Zugang über die Betriebsräte als vertrauensbildendes Elemet gewertet. Denn klassischen Formate und Medien seien für Akteure des Stereotyps „schlechte Erfahrung mit Schule“ nur bedingt geeignet. Im Sinne von „train the trainer“ gelte es, das Wissen von Ingenieuren an die einzelnen Handelnden weiterzutragen. Um so den Mitarbeitenden einen Eindruck vermitteln, welche Ansätze der zukunftsgerechten Kompetenzentwicklung für sie interessant sein könnte.

Abschließend wurde die Bedeutung von regionalen Entwicklungsstrategien erörtert. Insbesondere hinsichtlich der gewerblichen Infrastrukturbedarfe und den Anforderungen in vielen Förderprogrammen wird hier eine Relevanz gesehen, die durch die Südwestfalen-Agentur abgedeckt wird. Die Größe und Heterogenität der Region Südwestfalen erscheint einzelnen Teilnehmenden für eine umfassende regionale Strategie jedoch nicht geeignet in dem Sinne, dass sie nicht facettenreich genug sein könnte um gelebt zu werden. Andere Teilnehmende empfahlen zumindest ein Industrie-Leitbild, ohne das Herausforderungen wie die Klimawende in Form von zirkulären Wertschöfungsketten nicht bewältigt werden können.

An beiden Tagen gab es wie üblich wieder viel Raum für Diskussion und zum Netzwerken. Herzlichen Dank an die Referentinnen und Referenten für die gewährten Einblicke und die Bereitschaft zum intensiven Austausch!